Alter und Würde

Was heißt in Würde altern?
Diese Frage wurde unserer Autorin Regine Sylvester von unserem Redakteur Rudolf Novotny, 32, gestellt. Hier ihre Antwort

Vor einer Woche hat Arno Widmann, 66, an dieser Stelle die Frage nach dem Altern in Würde beantwortet. Es war ein grandioser Text und – wie hätte es anders sein können – seine persönliche männliche Erfahrung.

In der Redaktion lagen unsere Zimmer nebeneinander, wir kennen uns ziemlich gut. Wie ehrlich er schreibt, dachte ich, und: Wie anders denke ich bei einigen Passagen. Ich bin keinesfalls eine Kontrahentin. Aber als Frau lebe ich bei diesem Thema auf einer Parallelspur.

Lieber Herr Novotny, Sie, der Redakteur, sind ein junger Mann. Könnte es sein, dass mein Wunsch Sie irritiert? Dass Sie mich für eine Diva halten? Denn anders als Arno Widmann bitte ich Sie, mein Alter nicht in die Unterzeile dieses Artikels zu setzen. Auch nicht an anderer Stelle. Mein Alter ist nicht etwa ein Geheimnis, man kann es mit einem Klick bei Google finden, aber ich sehe keinen Grund, die Öffentlichkeit mit der Nase darauf zu stoßen. Ich kenne doch den Reflex: Aus die Maus. Ich habe erlebt, dass mein Alter gegen mich sprechen kann. Als ich mich in einen etwas jüngeren Mann verliebte schätzte der mich altersmäßig zuerst falsch ein, dann floh er. Übrig blieb schwerster Liebeskummer. Verteidige ich mit der Erfahrung meine Würde oder gebe ich sie schon an dieser Stelle auf?

Arno Widmann ist 66 Jahre alt. Na und? Ist doch kein Alter für einen Mann. Er könnte noch Vater werden. Könnte mit seiner Klugheit und Frechheit jüngere Frauen becircen. Er raucht nicht, bewegt sich gerne und trinkt nur Obstsäfte – mit dem Lebensstil bliebe er einer jüngeren Frau lange erhalten. Arno Widmann rühmt in seinem Text Franz Müntefering, weil der sich von keinem „Stirngerunzel einer bigotten Öffentlichkeit“ abhalten ließ und eine vierzig Jahre jüngere Frau heiratete.

Ich habe einen ähnlichen Fall in der eigenen Familie, und auch ich finde das völlig in Ordnung. Liebe ist immer ein Wagnis. Aber stellen wir uns – nur mal so, zum Vergleich – einen Augenblick vor, unsere Bundeskanzlerin, 58, wäre ungebunden, sie verliebte sich jetzt einen gut aussehenden Achtzehnjährigen und heiratete ihn. Ja, ich weiß, das kann man sich kaum vorstellen.

„Eines schickt sich nicht für alle!
 Sehe jeder, wie er’s treibe,
 Sehe jeder, wo er bleibe, 
Und wer steht, dass er nicht falle!“ Das ist aus einem Goethe-Gedicht.

Natürlich dürfen sich sehr junge Frauen in viel ältere Männer verlieben. Das kann einer sein, der sie durch seinen Esprit, seine Erfahrung, seinen Beschützerinstinkt erobert. Das Paar könnte sehr glücklich werden.

Aber Macht, Ruhm und Geld spielen auch oft eine Rolle. In den bunten Zeitschriften kann man nachlesen, wie sich bei jeder neuen Hochzeit berühmter Männern die Frau an ihrer Seite verjüngt. Dagegen kenne ich keinen Busfahrer oder Gerüstbauer, der mit einer Jahrzehnte jüngeren Flamme ausgeht, die Model ist und ihn um eine Kopflänge überragt. In dem Film „About Smith“ (2002) spielt Jack Nicholson einen ausgelaugten Rentner aus dem Versicherungswesen. Gleich am Anfang des Films fällt seine gleichaltrige, rundliche Ehefrau beim Staubsaugen tot um. Sie sah genauso aus wie die Frau, die Jack Nicholson hätte, wenn er nicht Jack Nicholson wäre.

In seinem Text schreibt Arno Widmann kurz und etwas indigniert, über ein offensichtliches männliches Problem im Alter und Höhepunkt männlicher Würdelosigkeit: die Unfähigkeit zur Erektion. Aber seit der Entdeckung von Viagra, rezeptfrei im Internet, ist die allgemeine Lage nicht mehr ohne Ausweg. Im Prinzip können sich Männer in jedem Alter bis in die Ewigkeit verlängern.

Ich könnte auf natürlichem Weg keine Kinder mehr bekommen – bekomme ich eben irgendwann Enkelkinder. Auch sehr schön. Trotzdem finde ich das ungerecht, denn eine Frau verliert durch diese Entscheidung der Natur einen großen Reiz.

Eine Frau, die allein lebend in die Jahre gekommen ist, kann einfach keine Lust haben, sich von der Liebe zu verabschieden. Sie wird auf sich aufmerksam machen, sie wird „Hier!“ rufen müssen – und damit wandert sie über vermintes Gelände.

Vor einiger Zeit habe ich auf eine Kontaktanzeige in der „Zeit“ reagiert, die von einem gleichaltrigen Mann aufgegeben worden war. Alle Attribute, die er sich zuschrieb, wirkten anziehend auf mich, seinen Wohnort erwähnte er nicht. In meiner Mail erzählte ich, was ich für eine bin. Seine Antwort kam sofort: als Frau in seiner Altersgruppe und als Berlinerin hätte ich „zwei K.o.-Kriterien zu viel“.

Früher als man denkt, steigt eine Frau, sofern sie auch als sexuelles Wesen wahrgenommen werden möchte, in eine schlechtere Liga ab. Und selbst da muss sie sich abstrampeln. Das wirft wieder die Frage nach der Würde auf. Ist es würdelos, wenn ich jünger aussehen will? Frauen, denen geistige Dinge viel, viel wichtiger sind, bringe ich Hochachtung entgegen. Jede von uns möchte ja einen Weg finden, auf dem sie nicht über ihren Schatten springen muss.

Nach einer Studie sollen 90 Prozent aller Frauen ihr Aussehen deutlich jünger einschätzen. Aber ich kenne eigentlich keine einzige Frau, die von sich selber sagt, dass sie älter aussieht, als sie ist. Erst in einer späten Lebensphase lassen Frauen richtig gerne ihr Alter schätzen. Sie setzen ein verschmitztes Lächeln auf und fordern einen Fremden auf: „Raten Sie mal, wie alt ich bin!“ Nach der unschlüssigen oder höflichen Antwort rufen sie laut und stolz: „Nein! Schon über Achtzig!“ Oder sogar: „Neunzig!“ Sie geben damit an, dass sie schon so alt sind.
So weit bin ich noch nicht.

Wie geht man als Frau von Jahrzehnt zu Jahrzehnt – wenn man begriffen hat, dass Würde allein nicht glücklich macht?
Je oller, je doller? Mit einem Gespenstergesicht, das viel Geld gekostet haben wird – wie Donatella Versace? Völlig unbekümmert mit kurzem Rock und Leggings – wie diese alte Frau, früher Verkäuferin, die auf kurzen Beinen ihren Hund ausführt und sich dabei nach Männern umsieht? Oder sollte man sich doch zurückziehen? In Erinnerungen leben? Enttäuschungen vermeiden?

Immerzu muss ich an den bestürzenden Film „Paradies: Liebe“ denken, gerade läuft er im Kino. Er zeigt, mit welchen sexuellen Zumutungen weiße ältere Touristinnen auf junge schwarze Männer in Kenia losgehen. Man kann zusehen, wie diese Frauen ihre Würde verlieren, wenn sie junge Männer erniedrigen, man hält es kaum aus. Diese Frauen machen das, weil sie es können: Sie haben das Geld, sie bestimmen die Regeln. Verkehrte Welt, bei den Berichten über männlichen Sextourismus habe ich mich nie so schlecht gefühlt.

Früher fanden sich die Frauen meiner Generation mit dem langsamen Verschwinden und Verblassen ab: als Matrone, Großmutter, komische Alte. Heute formiert sich eine Protestbewegung, der ich auch angehöre: Ich schwimme gegen den Strom und arbeite gegen die Zeit. Ich retuschiere, ich täusche. Ich kaufe enge Kleider, damit ich nur wenig essen kann. Ich habe eine Schuhmarke entdeckt, die trotz ihrer extremen Absätze überraschend bequem ist. Meine Brillengestelle kaufe ich nicht nach vernünftigen Gesichtspunkten, sondern nach Attraktivität. Es dauert eine knappe Stunde, bis ich die im Bad angetretene Kosmetik abgearbeitet habe. Ohne Parfüm gehe ich nicht aus dem Haus.

Und jetzt behaupte ich: So viel Mühe macht sich kein Mann. Oder: Macht sich kaum ein Mann.

Sauber will er sein, gut riechen, wahrscheinlich benutzt er After Shave und eine Hautcreme. Er zieht sein Leben lang ähnliche Hosen, Hemden, Jacken, Shirts an – vielleicht später ein paar Nummern größer. Und immer flache Schuhe. Wenn einem Mann das Haar ausgeht, kann er sich den Rest auch noch abrasieren und sieht womöglich interessanter aus. Auch Sie werden einmal drüber nachdenken, Herr Novotny.

Männer experimentieren selten mit der Mode, deshalb müssen sie sich auch nicht von ihr verabschieden oder sich groß umstellen.

Ich habe lange keinen BH getragen. Zum 50. Geburtstag schenkte mir meine Freundin Jutta einen BH mit schwarzer Spitze und legte eine Karte dazu: „Hoch soll’n sie leben!“. An dem Tag, an dem ich mich zum ersten Mal älter werden fühlte, stellte ich goldene Lederstiefel bei Leiser ins Regal zurück. Das geht nicht, dachte ich. Und das geht auch nicht mehr. Und das ist nur noch peinlich.
Eine neue Schüchternheit kommt auf leisen Sohlen.

Würde, Würde: Jeder versteht etwas anderes darunter. Das Wort kann in einem Vorwurf versteckt sein, in Anmaßung und Tadel. Es kann Respekt bedeuten, Bewunderung, Charakter stärke.

Mir gefällt aber am meisten die Definition des Verhaltensforschers und Zoologen Wolfgang Winckler, Jahrgang 1931. Auf die Frage, was Würde sei, antwortete er kurz: „Ein Konjunktiv.“

Berliner Zeitung 26./27.Januar 2012, April 2014 bearbeitet

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