Warum ich? Warum jetzt?

Christiane zu Salm: „Dieser Mensch war ich. Nachrufe auf das eigene Leben.“ Goldmann München 2013. 250 S., 17,99 Euro

Auch noch Jahre nach dem Krieg gab es großes Elend. Ich war sechs oder sieben Jahre, als mich meine Mutter mit Resten unseres Mittagessens, meistens Eintopf, zu einer alten armen Frau schickte. Sie wohnte im Keller und lag im Bett unter Lumpen, weiße Borsten wuchsen aus dem Kinn. Am Ende leckte sie den Löffel ab und gab ihn mir zurück. Ich fürchtete mich vor ihr und dem Geruch. Als ich einmal mit Essen kam, lag sie still, der Greisinnenmund stand weit offen. Zum ersten Mal sah ich einen toten Menschen, ich spürte ein Grauen und rannte nach Hause.

Meine Mutter starb mit 87 Jahren im Schlaf. Am Tag davor hatte sie Streuselkuchen gebacken, das Blech stand auf dem Kühlschrank wie ein letzter Gruß. Sie hat gerne gebacken und gekocht, sie war stolz auf ihre Selbstständigkeit. Wenn sie mit Besuchern lachte, wackelte ihr dicker Bauch.

Seit einer Buchpremiere kann ich nicht aufhören, an Menschen zu denken, die mir gestorben sind – als ob ich etwas nachzuholen hätte. Das Buch heißt: „Dieser Mensch war ich. Nachrufe auf das eigene Leben.“ Nachrufe von Sterbenden auf sich selber? Es ist ein Wagnis, auf das sich Christiane zu Salm als Sterbebegleiterin eingelassen hat.

Die Chefin von MTV und 9Live, dem umstrittenen Gewinnspielsender? Die Frau für Geschäftsmodelle und zweistelliges Umsatzwachstum? Die jung und attraktiv aussieht? Genau die ist seit Jahren ehrenamtliche Sterbebegleiterin. Das Thema habe sie, sagt sie im Vorwort, auf irgendeine Weise gerufen. Sie besucht Menschen, die sich dem Tod nähern. Sie hört ihnen zu, in der Wohnung, im Heim und Hospiz. Ihre Begleitung endet mit der Beerdigung.

Sie musste die Sterbebegleitung lernen. Kurse dauern ein halbes Jahr, an Wochenenden und frühen Abenden. Gegen Ende der Ausbildung stellte die Leiterin den Teilnehmern eine Aufgabe: „Gehen Sie davon aus, dass Sie übermorgen sterben werden. Definitiv. Nehmen Sie sich Stift und Papier und schreiben Sie einen Nachruf auf sich selbst. Jetzt. Sie haben eine Viertelstunde Zeit.“ Christiane zu Salm geriet in Panik, was wäre die Bilanz ihres Lebens?
So kam sie auf den Gedanken zu dem Buch.

40 Männer und 40 Frauen nehmen Abschied. Niemand ist berühmt. Sie haben der Frau an ihrem Bett eher kurze als lange Texte diktiert und später für das Buch frei gegeben – fast niemand wollte auch nur ein Wort ändern oder etwas abmildern.
Jeder Nachruf ist von verstörender Wucht. Warum ich? Warum jetzt?

„Ich liege hier und bin bald nicht mehr da. Eigentlich nicht zu begreifen. Ich kriege es einfach nicht in meinen Kopf. Aber so wird es sein.“ Koch, 67 Jahre

„Mein Leben lang habe ich immer gewartet. Gewartet auf den richtigen Mann, auf die richtigen Freunde, auf den richtigen Job. Im übertragenen Sinn könnte man sagen, dass ich darauf gewartet habe, dass die Sonne rauskommt. Eigentlich habe ich ein Gelegenheitsleben geführt, während ich auf das richtige Leben gewartet habe.“ Hilfsarbeiterin, 63

„Ich hätte früher zugeben sollen, dass ich Männer liebe. Erst habe ich gewartet, bis meine Eltern starben, dann habe ich abgewartet, bis Heike starb. Über dreißig Jahre. Jetzt lebe ich mit Martin.“ Versicherungsangestellter, 73

„Wie soll das alles werden ohne mich – ich habe noch so viel zu tun. Ich mache mir große Sorgen um meine Söhne.“ Bauingenieur, 59

„Ich bin unendlich verbittert über das frühe Ende, das mir droht. Was habe ich falsch gemacht, dass ich jetzt mit diesem Hirntumor bestraft werde. Wer hat das veranlasst? Gott? Ich war immer ein treuer Ehemann, ein guter Familienvater und habe immer meine Steuern bezahlt. Also: Was soll das? Ich verstehe es nicht. Es trifft immer die Guten, die Unschuldigen.“ Restaurator, 48

„War ich eine gute Mutter? Das ist das einzige, was mich jetzt beschäftigt.“ Halbtagskraft in der Krankenhausverwaltung, 47

Aber es gibt auch Sterbende, die ihr Ende dankbar annehmen – ohne offene Rechnungen können sie leichter loslassen. Und ich? Seit Tagen überlege ich, welchen Nachruf ich schreiben würde. Wenn ich jetzt mehr Frieden fände, könnte das zu einem leichteren Sterben führen?
Hätte, wäre, würde.

Wer seinen Nachruf schreibt, hat nichts zu verlieren. Eine Behördensekretärin zählt zu ihren nicht erfüllten Wünschen den Besuch eines Swinger-Clubs. Ein Hotelangestellter hat sich einmal bestechen lassen. „Jetzt weißt du’s Lotte.“ Ein Mann beichtet: „Nach knapp zehn Jahren Ehe habe ich eine andere Frau geschwängert. Dabei wollte ich einfach nur mal wieder etwas Abwechslung im Bett. Diana, du wirst das höchstwahrscheinlich erst erfahren, wenn es mich nicht mehr gibt. Aber besser auf diesem Weg als gar nicht.“

„Unter jedem Grabstein liegt eine Weltgeschichte“, schrieb Heinrich Heine. Dieses Buch sammelt Sätze aus einmaligen, unbekannten Weltgeschichten.

„Wenn ich überlege, ob ich mal jemanden hätte umbringen können, fällt
mir spontan mein Mann ein“, sagt eine Frau von 78. Eine andere, auch in den Siebzigern, erinnert sich an ihre schöne Kindheit, „als wir Eier und Bouletten am Wannsee gegessen haben. Vom gesamten Rest meines Lebens möchte ich nichts notiert wissen.“

70 Prozent der Deutschen wollen zu Hause sterben, aber wenn Schwerkranke die Eigenständigkeit verlieren oder die Familien die Betreuungslast nicht tragen können, ändert sich alles. Deshalb sterben 70 Prozent im Krankenhaus, Heim oder Hospiz. Sie sind weniger allein, wenn jemand kommt, der ihre Hand hält und zuhört.

Manchmal spüren wir bei Begräbnissen, dass der Verstorbene für den Redner ein Fremder war. Die Menschen aus dem Buch wünschen sich, dass ihre Nachrufe am Grab verlesen werden. Vielleicht werden sich nun mehr Menschen wünschen, das letzte Wort zu bekommen, wenn sich die Nahestehenden zum Abschied versammeln.

Berliner Zeitung 8. November 2013, April 2014 bearbeitet

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